HT 2021: Umweltdebatten als Deutungskämpfe. Internationale Expertise seit dem 19. Jahrhundert

HT 2021: Umweltdebatten als Deutungskämpfe. Internationale Expertise seit dem 19. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Pavla Šimková, Rachel Carson Center for Environment and Society, Ludwig-Maximilians-Universität München

An der Klimakrise sind die Experten schuld. Eine zugespitzte Behauptung? Ganz sicher. Eine gar unsinnige? Vielleicht doch nicht. Denn wäre eine Krise von Menschen, die eine gesellschaftlich anerkannte Expertise und Autorität besitzen, nicht als solche gedeutet, würden ihre öffentliche Wahrnehmung, ihr mediales Bild und die auf sie reagierenden politischen Entscheidungen gewiss anders ausfallen. Die Frage, wie Wissen in Umweltdebatten formuliert und verbreitet wird, bei wem die Deutungshoheit über Umweltfragen seit dem späten 19. Jahrhundert lag und vor allem welche Rolle in diesen Debatten den Experten aus den Reihen der Naturwissenschaftlern, Politikerinnen und Umweltschützerinnen zukam, nahm sich die von Karolin Wetjen (Kassel) und Daniel Speich Chassé (Luzern) organisierte Sektion des 53. Historikertags vor.

Wie KAROLIN WETJEN in ihrem Beitrag zeigen konnte, ist das Bild der drohenden Umweltapokalypse, das in den letzten Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil der medialen Berichterstattung geworden ist, doch nicht bloß eine Erscheinung des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts. Kritische Gegenwartsdiagnose und apokalyptische Zukunftsvorstellungen wurden nämlich bereits um 1900 von Naturschutzvereinen im deutschen Kaiserreich als Instrumente im Kampf um die Anerkennung von Naturschutz als gesamtgesellschaftliches Anliegen angewendet. Besondere Bedeutung kam in diesen Kampagnen dem naturwissenschaftlichen Wissen zu: Die Expertise von insbesondere Botanikern und Zoologen diente hier nicht nur dazu, die bedrohten Pflanzen- und Tierarten zu identifizieren. Sie wurde vielmehr dazu benutzt, den Naturschutz als wissenschaftlich belegte Notwendigkeit darzustellen; gleichzeitig galt sie als ein Instrument, mit dessen Hilfe die menschengemachte Apokalypse noch abgewendet werden konnte. Das auch aus späteren Debatten wohlbekannte Muster einer kleinen Gruppe von Experten, die die große Gruppe der „Laien“ belehrt, habe sich damit bereits in dieser frühen Phase der Natur- und Umweltschutzdebatten etabliert.

Eine andere Perspektive auf die Verfestigung der wissenschaftlichen Expertise in den globalen Umweltdebatten des 20. und 21. Jahrhunderts wählte DANIEL SPEICH CHASSÉ. Von der Frage ausgehend, woher der gegenwärtige und fast ausschließliche Fokus der Umweltpolitik auf den Klimawandel und auf die Biodiversität kommt, ergründete er in seinem Beitrag die Bedeutung und das gegenseitige Verhältnis von Quantifizierung und Ökonomisierung von Umweltproblemen und Naturschutz in der Umweltpolitik des 20. Jahrhunderts. Neben der Feststellung, dass das Beschreiben der Umweltlage in Zahlen eine viel längere Geschichte hat als ihr Ausdrücken durch den wirtschaftlichen Wert, ging Speich Chassé auch auf die globalen Fragen ein, was Umwelt ist und wie sich deren Wahrnehmung und Darstellungstechniken im Laufe der letzten Jahrzehnte gewandelt haben. Abschließend stellte er die These auf, dass die Umwelt erst durch ihre Übersetzung in die Sprache der Zahlen zu einem weltgesellschaftlich kommunizierbaren Phänomen werde, dass der Begriff durch diese Quantifizierung aber gleichzeitig seinen eigentlichen Sinn verliere, denn „Umwelt ist systemtheoretisch gerade keine Umwelt mehr, sondern zentraler Gegenstand weltgesellschaftlicher Selbstverständigung und damit selbst Teil eines Weltsystems.“

Dass es allerdings mehr als Zahlen und Daten bedarf, um einen Deutungswandel hervorzurufen, zeigte am Beispiel der Sumpfgebiete in ihrem Vortrag ANNA-KATHARINA WÖBSE (Gießen). Eine radikale Umdeutung von Mooren, die historisch als hinderliche, öde Gebiete galten, die erst durch Trockenlegung produktiv gemacht werden konnten, führte sie auf Aktivitäten von Experten, vor allem Zoologen und Ornithologen, zurück. Für diese galten Feuchtgebiete als Hotspots von Biodiversität und als unverzichtbare Rückzugsorte für bedrohte Tiere: Ihre Bestrebungen, sie als solche zu schützen, kulminierten 1971 in der Ramsar-Konvention. Wissenschaftliche Daten alleine hätten jedoch keinen Wandel in der Wahrnehmung von Mooren ausgelöst: Es bedurfte eines neuen Narrativs, einer neuen Lesart von Sümpfen, die jetzt als Wasserspeicher, als Erholungsräume, als Platz für Tiere und insgesamt als liquid assets angesehen wurden statt wie bisher als unproduktive Fläche. Mit dieser neuen Deutung ging auch eine neue visuelle Inszenierung einher, die die Lebendigkeit und Artenreichtum der einstigen Einöde betonte. Das ältere ökonomische Narrativ wurde in diesem Fall erfolgreich von der ökologischen Erzählung abgelöst.

In die entgegengesetzte Richtung entwickelte sich laut SIMONE SCHLEPER (Maastricht) die internationale Umweltpolitik der 1970er-Jahre. Schleper zeigte das Aufeinandertreffen von Umweltexperten und Diplomaten am Beispiel der ersten UN-Umweltkonferenz, die 1972 in Stockholm stattfand. Die Konferenz etablierte zwar die Umwelt als einen internationalen Brennpunkt; gleichzeitig war hier „Umwelt“ aber ein umstrittener Begriff, den es erst mit konkreter Bedeutung zu füllen galt. Es konkurrierten mehrere Interpretationslinien miteinander, die in unterschiedlichem Ausmaß die Politik beeinflussten. Neben der ökologischen Interpretation wurden Umweltprobleme in Stockholm vor allem sozioökonomisch definiert, eine Auslegung, die auf der Konferenz schließlich auch die Oberhand gewann. Für naturwissenschaftliches Wissen und für die Agenda von Naturschutzorganisationen gab es dagegen innerhalb des UN-Systems nur wenig Anerkennung. Insgesamt, so Schleper, könne die internationale Umweltpolitik der 1970er-Jahre nicht als Teil der ökologischen Wende betrachtet werden.

In ihrem Kommentar stellte abschließend SIMONE MÜLLER (München) auf den Vorträgen der Sektion basierend vier Thesen auf. Erstens, so Müller, sei wissenschaftliche Kommunikation gleichzeitig auch eine Legitimationsstrategie: Nur wer das eigene Wissen zur Schau stelle und einen bestimmten Habitus entwickele, gelte als Expertin. Zweitens scheine nicht nur der eigentliche Akt der Kommunikation festgelegt, sondern auch deren Ton: Hier stellte Müller die etwas provokante Frage in den Raum, ob es zur Rolle eines Experten gehöre, stets den mahnenden Ton anzustimmen und ob Experten, um als solche zu gelten, immer warnen müssten. Drittens betonte sie die fortwährende Identifikation von „Expertise“ mit „harten“, am liebsten naturwissenschaftlichen Daten: Um ihr eigenes Wissen zu legitimieren, griffen Expertinnen oft zu den Naturwissenschaften, denn nur diese gälten nach wie vor in der öffentlichen Diskussion als objektiv und unangreifbar. Wie schwierig dieses Verständnis die Position der Geisteswissenschaften mache, liege auf der Hand. Letztens argumentierte Müller, es sei nicht unbedingt die wissenschaftliche Sachlage, sondern vielmehr der politische und ökonomische Kontext, der über die Deutungshoheit entscheide.

In der anschließenden Diskussion wurde gerade die Wichtigkeit der ökonomischen Dimension in Debatten über den Umwelt- und Naturschutz noch einmal betont. Es wurde außerdem auf die Bedeutung von Nicht-Wissen und verlorenen Diskurselementen hingewiesen. Zum Ausdruck kam auch das Thema, ob es sich bei den angeführten Beispielen tatsächlich um Deutungskämpfe oder doch eher um reibungslos wirkende Narrativverschiebungen handelt. Insgesamt bot aber das Panel einen vielschichtigen und spannenden Einblick in die diskursiven Logiken von Umweltdebatten und in die Rolle von Expertinnen in diesen von 1900 bis heute.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Daniel Speich Chassé (Luzern) und Karolin Wetjen (Kassel)

Karolin Wetjen: Die drohende Apokalypse. Das wissenschaftliche Reden über Umweltprobleme seit dem 19. Jahrhundert

Daniel Speich Chassé: Quantifizierungstechniken und die Verfestigung von Expertise in der globalen Umweltproblematik (19., 20. und 21. Jhd.)

Anna-Katharina Wöbse (Gießen): Wem gehört der Sumpf? Ökologisches Expertenwissen seit 1950

Simone Schleper (Maastricht): Die ‚Umwelt des Menschen‘. Expertenstreit und Diplomatie bei der Stockholmer Konferenz, 1972

Simone Müller (München): Kommentar


Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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